„Hoffentlich behalten alle Verantwortlichen einen klaren Kopf“

Inge Holzinger erhielt am 27. Januar 2022 den Preis für Toleranz und Zivilcourage.

Sie sprach über ihre Sorge um die Entwicklung in der NATO und der Ukraine mit Russland und die Aktualität der Notwendigkeit des Engagements für den Frieden. So rief sie auf, sich an den Ostermärschen zu beteiligen.

Der Preis wird seit 2000 anläßlich des Befreiungstages von Ausschwitz an Duisburger Personen vergeben, die sich besonders einsetzen gegen Hass, Fremdenfeindlichkeit und religiösen Fanatismus.

Inge erhielt ihn für ihr unermüdliches Eintreten für Frieden und gegen Ausländerfeindlichkeit. Vor sechzig Zuhörern sprachen Oberbürgermeister Sören Link – er warnte vor der Rechtsentwicklung in unserer Gesellschaft – und der frühere Europaabgeordnete Klaus Hänsch. Er betonte die Bedeutung der Europäischen Union für Frieden und Demokratie.

Das Friedensforum freut sich über die Anerkennung seiner langjährigen Arbeit durch die Ehrung seines Mitglieds Inge Holzinger.

Und das ist das bewegte Leben von Inge:

Inge Holzinger wurde im Jahr 1933 geboren. Hannover war ihre Geburtsstadt, inder sie auch zur Schule ging. Sie erlebte mit jungen Jahren den Auftrieb des Faschismus in ihrer Stadt. Der einsetzende Kriegsterror brachte Zerstörung in ihre Heimat. Inge Holzinger wird mit dem Satz zu den Kriegsereignissen folgendermaßen zitiert: sie sei bis 1943 „durch das Feuer gerannt“.

Durch die Bomben-Angst im zerstörten Hannover mag der Kern des Hasses gegen den Krieg gelegt zu sein. Die Flucht aus der zerstörten Stadt durch den totalen Krieg brachte sie in ein Dorf, von dem sie später berichtete, dass sie sah, wie viele geflüchtete Menschen dort in die Dorfgemeinschaft aufgenommen wurden. Mehr als es heute jemand bei Flüchtenden zu dulden erlaubt.

Die Befreiung vom Faschismus und Krieg 1945 war für sie Erlösung und Befreiung gleichermaßen. Die beiden Worte „nie wieder!“ wurden zum unverbrüchlichen Bestandteil ihres weiteren Handelns.

Ihren beruflichen Werdegang begann sie als Medizinisch-technische Assistentin in Arztpraxen in Freiburg und Bielefeld. Sie hängte ihren Beruf an den Nagel und ging zur PH.

Und hier entstand auch der erste Kontakt zur Friedensbewegung. Die Nachkriegsentwicklung formte aus ihr einen Menschen mit einer humanistischen Gesinnung, die alle Kraft dafür verwendet mit viel Geduld und Ausdauer jungen Menschen die Friedensliebe, Demokratie und Achtung vor den Mitmenschen und dem Leben nahe zu bringen.

Sie erlebte mit der Entstehung einer Parlamentarischen Demokratie nach dem Zusammenbruch des Faschismus, wie sich alte Strukturen wieder festigten. Keine wirksame, durchgreifende Entnazifizierung. Staatliche Organe, Justiz und Polizei in den Händen von alten Seilschaften. Sie verfolgte mit Unverständnis und Ablehnung die Wiederbewaffnung durch die Regierung Adenauer. So kurz nach dem Weltkriegsverbrechen der Deutschen Nation. Sie beeindruckten Personen wie Renate Riemeck sowie Arno Behrisch, die Gründer der Deutschen Friedensunion.

Nach dem Studium wurde Inge Holzinger Lehrerin, Realschullehrerin, ihr Wunschberuf. Es wurde ihr wichtig, sich immer für junge Menschen in ihrem Umfeld einzusetzen. Nicht nur, wenn diese Hilfe brauchten, sondern um ihnen soziale Teilhabe zu garantieren. Es wurde ihr wichtig, sich mit ihrem Anliegen für schulische Bildung dadurch einzusetzen, dass sie sich für bessere Schulen mit ausreichend Lehrpersonal und Unterrichtsmaterial sowie für kleine Klassen einsetzte. Folge ihres Engagements war die Arbeit in der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft. Ihr Eintritt als Gewerkschaftsmitglied in der GEW war 1963. Dies war verbunden mit einer aktiven gewerkschaftlichen Arbeit. Darunter dann Stationen wie die Arbeit im GEW-Vorstand von Duisburg, Leitung der Fachgruppe Realschule, Mitarbeit im DGB-Frauenausschuss und im DGB-Beamtenausschuss. Auch später im hohen Alter ließ sie sich in den Senioren-Ausschuss der DGB wählen und arbeitete aktiv dort mit.

Der Eintritt in die GEW 1963 weckte ebenso Inges Interesse an weiterer Bildung.1963 Gründung eines marxistischen Arbeitskreises mit Bildungsveranstaltungen und Vorträgen, bei denen sie bis 1970 aktiv mitwirkte.

1968: Planung der ersten Gesamtschule in Duisburg und Mitarbeit im Duisburger Planungsausschuss. Zwei Jahre später (1970) startete Inge ihre Mitarbeit im Bildungsbereich mit der „Aktion kleine Klasse“.

Viele Jahrzehnte hat Inge die Fachgruppe Realschule geleitet, hat sich in dieser Funktion sehr stark für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Lehrkräften eingesetzt. Als Fachgruppenvorsitzende hat sie die Interessen der KollegInnen auch im Vorstand der GEW Duisburg vertreten. Als sie Lehrerin der Gesamtschule wurde, arbeitete sie als Ehrenvorsitzende der FG Realschule weiter. Die GEW Duisburg vertrat sie jahrelang auch im DGB. Auch im Ruhestand hat sie regelmäßig an den Sitzungen der Fachgruppe Realschule teilgenommen und den KollegInnen mit Rat zur Seite gestanden.

Inges Interesse war es immer, sich für die Benachteiligten im System Schule einzusetzen und Strategien zu entwickeln, sich auch gegen Druck und gegen ungerechte Behandlung durch Vorgesetzte wehren zu können.

Zwei Entwicklungen prägten Inge. Zum einen die deutliche Diskrepanz zwischen dem Willen, mit den alten Strukturen einer Herrschaftsarchitektur im Staat zu brechen, die den Aufstieg des Faschismus zuvor begünstigt hatte, aber in der Realität der Nachkriegsentwicklung zu Bruch ging. So wurden viele derjenigen, die dem antifaschistischen Widerstand entstammten oder deren Kinder in den Anfängen der 70er Jahre wieder verfolgt. Linke Sozialisten und Antifaschisten, die sich am heftigsten für die demokratischen Rechte der Menschen, für Minderheiten und für die sozial Schwachen einsetzen wollten!

Berufsverbote in der Bundesrepublik Deutschland! Sie hatte drei Anhörungen beim Regierungspräsidenten in Düsseldorf. Und einen Prozess zu ertragen, bei dem sie von den Vorwürfen der Kläger freigesprochen wurde. Sie durfte aus diesem Verdacht heraus auch nicht Mitglied im Lehrerrat werden. Sodann Mitarbeit im Arbeitskreis gegen Berufsverbote. Solidarität und Hilfestellung für weitere betroffene Kolleg*innen. Wobei sie ungeachtet von Parteigrenzen, Verbindungen zu SPD- und FDP-Landtags-abgeordneten, zu kirchlichen Stellen und Pastoren herstellte. Hinzu kommen Kontakte zur Duisburger Partnerstadt Calais und veranstaltete Treffen mit dortigen Antifaschist*innen in der Partnergemeinde.

1968 trat Inge Holzinger der Deutschen Kommunistischen Partei bei. Wegen ihrer Parteimitgliedschaft wurde ihr der GEW-Vorsitz verwehrt. Auch wurde sie kein Personalratsmitglied.

Die zweite Diskrepanz realer Entwicklung der Bundesrepublik zum Friedensgebot des Grundgesetzes stellte die Wiederaufrüstung der Bundeswehr dar. Schon im Jahr 1962 nahm Inge am Ostermarsch in Niedersachsen teil. Dann kam mit ihrem Umzug nach Duisburg eine neue aktive Mitstreiterin zum Ostermarsch Ruhr hinzu. Seitdem ist Inge aus der Teilnahme und dem Organisieren für den Friedensgedanken nicht mehr wegzudenken. Ihre Unterstützung gegen den NATO-Doppelbeschluss und ihr Einsatz für Unterschriften unter den Krefelder Appell sind Meilensteine, die in einer der größten Massenbewegung für Abrüstung und zur Rücknahme der Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa führte. Sie wurde aktives Mitglied im Duisburger Friedensforum und eine ihrer prominentesten Stimmen. Und sie war Mittlerin und streitbare Friedensfrau und setzte sich dafür ein, zu allen Menschen Brücken zu bauen, um sie für eine Zukunft in Frieden zu gewinnen.

Als sich 1998/99 weniger aktive Friedensbewegte in Duisburg an der Organisation des bevorstehenden „Ostermarsch Ruhr“ beteiligten, war ihr Engagement stärker als je zuvor für das nun gegründete „Friedensforum Duisburg“.

Seitdem beteiligten sich Bernd Funke von der Friedensinitiative Wanheimerort, Christian Uliczka von den Richtern und Rechtsanwälten für den Frieden, Eberhard Przyrembel von Pax Christi sowie auch weitere Friedensbewegte von der VVN BdA, DKP, Falken und Grünen. Inge Holzinger ist es im wesentlichen zu verdanken, dass es das Friedensforum Duisburg mit seinen Aktivitäten für Frieden in sozialer Gerechtigkeit heute noch gibt.

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Ihr soziales Engagement kam neben ihrer politischen Arbeit nie zum Stillstand. Deshalb: Mitarbeit im Asylcafé, in dem sich Asylbewerber einmal in der Woche informieren, sich aufhalten und unterhalten konnten. Sie brachte deren Kinder von der Koloniestraße in Duisburg-Neudorf mit der Straßenbahn zur Schule nach Duisburg-Kaßlerfeld. Ab 2015/16 hatte Inge ein ihr wichtiges Anliegen umgesetzt. Mit drei weiteren Frauen unterrichtete sie Flüchtlingsfrauen und ihre Kinder in Duisburg-Neudorf. Der „Deutsch-Unterricht“ sollte sonst ausgeschlossenen Personen die Integration in ihre neue Heimat erleichtern.

Eine ehemalige Projektmitarbeiterin berichtet: „Inge unterrichtete eine Gruppe von Frauen unterschiedlichen Alters und aus verschiedenen Nationen. Ihre einfühlsame Art zu den Frauen führte schnell dazu, einen persönlichen Kontakt im Unterricht aufzubauen. Ihr Ziel, an den lebenspraktischen Dingen im Leben ihrer Schülerinnen anzuknüpfen und ihre einfühlsame Art begeisterte so sehr, dass die Frauen sich noch länger als in der regulären Unterrichtszeit mit Inge auseinandersetzen wollten. Frauen berichteten immer wieder davon, glücklich darüber zu sein, wie das Gelernte ihnen bereits beim Einkaufen geholfen habe. Die Kinder der Frauen wurden während der Unterrichtszeit betreut.“

Die Pflege persönlicher Kontakte war ihr wichtig. Denn hinter jeder Überzeugung sah sie den Menschen. Und wenn jemand ihren Beistand benötigte, brauchte man sie nicht um Hilfe bitten. Inge war da und war Ansprechpartner. So berichtet eine ehemalige Duisburger Ratsfrau, dass sie bei Verlust ihres Lebenspartners sich an die starke Persönlichkeit von Inge anlehnen konnte. Beistand auch in schlimmen Zeiten, für Inge keine Frage. So sorgte sie sich auch jahrelang um die Belange eines alten Freundes und Genossen, der unselbständig geworden seinen Lebensabend in einem Seniorenheim verbrachte. Hilfe und Beistand geben war für sie selbstverständlich. Sie tat dies in ihrer äußerst unspektakulären Art: selbst bescheiden und Menschen zugewandt zu sein.

Bis in ihr hohes Alter hat Inge sich der Friedensarbeit verschrieben. Aufklären, überzeugen, zuhören, diskutieren, den Menschen helfen und sie respektieren. Sich aber an handfesten Dingen reiben und sie zur Sprache bringen, sich engagieren. Zum Beispiel: Kalkar. Ein Militärstützpunkt am Niederrhein, der zu einem verbunkerten Luftleitzentrum und zu einer NATO-Kommandozentrale ausgebaut wurde. Nur durch eine Randnotiz in der Presse aufmerksam gemacht, ergriff Inge die Initiative. Brachte ihre Erkenntnisse im Ostermarsch-Komitee zur Sprache und sorgte dafür, dass sich anschließend vielfältige Aktionen und die Aufklärung über das neue Machtzentrum der NATO am Niederrhein stärker als bekannt verbreiten konnten. Die Proteste der Friedensbewegung an Rhein und Ruhr sind heute fester Bestandteil der Friedensbewegung, ebenso wie die Proteste vor dem Stationierungsort amerikanischer Atomwaffen auf deutschem Gebiet in Büchel. Auch dort sah man Inge als friedensbewegte Frau beim friedlichen Widerstand gegen die atomare Teilhabe der Bundesreplublik.

Ihr Friedensengagement wurde mit der Verleihung des Düsseldorfer Friedenspreises 2006 geehrt. Zu ihrem 80. Geburtstag im Jahr 2013 überbrachte ihr der damalige Bürgermeister der Stadt Duisburg, Erkan Kocalar, die Ehrung für Ihr Engagement mit einer Urkunde und silberner Ehrenmedaille mit den Worten: „Die Stadt braucht solche Menschen, die über Jahrzehnte hinweg für die Sache des Friedens eintreten. (…) Mir ist es ein besonderes Bedürfnis, die Repräsentantin des Duisburger Friedensforums für ihr Engagement (…) zu danken.“

Unfallbedingte Handicaps unterbrachen viele ihrer Aktivitäten. Dennoch ließ sich Inge Holzinger trotz ihrer gesundheitlichen Einschränkungen es nicht nehmen, kürzlich die Ausstellung von Werken des Künstlers Heinz Kiwitz im Friemersheimer St. Laurentius-Museum zu besuchen und damit dem antifaschistischen und widerständigen Künstler, dessen Werke unter den Faschisten verfemt waren, die Ehre zu erweisen.